Es ist 14 Uhr an diesem Dienstag, als Gernot zum letzten Mal die neue Domain der Fubar GmbH in die Konfig-Maske auf seinem Lenovo eintippt. Gernot ist, oder war mal, ein ITler. Im Zeitalter der Digitalisierung ist er zum Magier geworden. Er kann ganze Firmen verschwinden lassen. Mit diesem letzten Eingabebefehl hat er das getan. Gernots Trick hat keinen Namen. Ich schlage mal „Lost Office“ vor.
Gernots Kunststück ist, wie immer bei einem Magier, eine Illusion. Und doch nicht. Die Firma selbst gibt es noch. Aber es gibt bei der Fubar GmbH nichts mehr von dem, das eine Firma zur Firma macht. Oder gemacht hat, früher mal, als die Firma der Platz war, an dem sich alles versammelt hat um gemeinsam produktiv zu sein. Gernot, der Magier, hat das alles von seinem Rechner aus verschwinden lassen. Alles, was die Fubar früher mal zusammengehalten hat, hat Gernot ausgelagert. Die gesamte technische Infrastruktur, die Server und Datenbanken für die Systeme und Arbeitsplätze, die Telefone, den Empfang, die Buchhaltung, den Kopierer, sogar das Internet selbst, ist irgendwohin in die Cloud verschwunden. Konsequenterweise müsste sich die Fubar jetzt in FubarCloud GmbH umbenennen. Wenn die letzten verbliebenen Festangestellten am Mittwoch ins Büro kommen, werden sie feststellen, dass sie einen neuen Grund finden müssen, am Donnerstag wiederzukommen. Es gibt noch die Räume. Aber es gibt darin kein Leben mehr.
Was Gernot mit dem lebendigen Mikromarktplatz, der die Fubar GmbH früher mal war, angestellt hat, gleicht der Arbeit eines Chirurgen, eher aber noch der eines Pathologen. Über mehrere Monate wurden die Organe der Fubar Stück für Stück entfernt. Das letzte war der Multifunktionsdrucker. Der einzige verbleibende Grund, der den Restangestellten noch als funktionierende Begründung zur Fahrt in die Firma zur Verfügung stand, das Scannen und Ablegen der an die Postadresse der Fubar geschickten Rechnungen. Gernot konnte ihn ebenfalls auslagern, an einen Büroservice. Um das Ende herbeizuführen, das große magische Finale, damit der Vorhang aufgehen kann und die Firma dahinter verschwunden ist, musste er noch die Domains an die neuen Cloud-Hoster umleiten. Die letzte Eingabe. Die Firma ist weg. Aber doch bleibt sie, jedoch mit begrenzten Möglichkeiten, sich davon zu überzeugen. Man muss es glauben, wenn man die Homepage der Fubar aufruft.
Was fehlt, ist der Applaus für Gernot. Das gewaltige Kunststück, das er vollbracht hat, war ein Kraftakt. Aber es findet niemanden, der es würdigen könnte. Gernots Arbeit war notwendig. Die Firma, die vor Jahren schon in Schieflage geraten war und sich aus dieser noch nicht hat befreien können, wäre pleite, hätte Gernot nicht durch viele radikale Schnitte die Kosten gesenkt. Aber keiner wird seine Leistung zu schätzen wissen. Wenn Sönke am Morgen nach dem Kunststück das Büro betritt, seinen mitgebrachten Rechner ins WLAN hängt, dann tut er das nur, weil er die jahrelange Gewohnheit des in-die-Arbeit-fahrens noch nicht vollständig hinter sich lassen konnte. Sönke ist einer der letzten Festangestellten der Fubar GmbH. Er weiß, dass er ein Relikt ist, dessen Zeit ebenfalls bald kommen wird. Kündigungsfristen und ausstehende Übergaben an weit günstigere Outsourcing-Worker verhindern noch, dass sich ihm der gleiche Weg eröffnet, den zuvor schon die Freelancer genommen haben, deren Aufgaben Sönke und den anderen Festen aufgedrückt wurden.
Frägt man Sönke und die anderen, wie sie mit
der Situation umgehen, auf den eigenen schon längst beschlossenen Exit zu
warten, hört und spürt man erstarrte Resignation. Sie wissen, dass sie büßen. Für ihren eigenen Anteil an der Verantwortung, dass es so gekommen ist. Sie wissen, sie sind nun ihre eigenen
Totengräber. Sie haben nur noch Monate. Sie arbeiten stumpf nach Vorschrift und
warten zu jedem Monatsende auf den 3-Zeiler, der eine teilweise über 10-jährige
Firmenzugehörigkeit kurz und knapp beendet. Sie bemühen sich nicht einmal
besonders, neue Jobs zu finden. Aber sie wiegen sich auch nicht in der falschen
Sicherheit, bald als Arbeitsloser vom Sozialnetz aufgefangen zu werden. Gernots
monatelange Autopsie hat den Blutkreislauf der Firma zum Erliegen gebracht, den
Energiefluss immer weiter verlangsamt und schließlich gestoppt, und sie davon
abgeschnitten. Jetzt sind sie dazu verdammt zu vegetieren. Aber die Gnade, sie
ebenfalls wie die übrige Materie der Fubar zu entfernen und ihnen das Erlebnis des
eigenen Endes zu ersparen, dieser Akt der Menschlichkeit bleibt ihnen versagt.
Unternehmerisches Denken. Es geht noch nicht ganz ohne sie. Ihre stetige Verwandlung
in willen- und leidenschaftslose Büro-Zombies, inklusive zunehmenden Symptomen
von Depression, wird akzeptiert. Vielleicht ist man der Meinung, sie hätten
jede Chance, sich selbst zu bewegen, selbst aktiv zu werden. Vielleicht
unterschätzt man die Wirkung, die das langsame Sterben auf sie hat, die
Abkopplung von einem reichen Energiefluss, der zum langsam fließenden Bach
geworden ist und keine Lebewesen mehr ernähren kann. Jetzt sind sie die letzten
Gefangenen ihres Bewusstseins, das in Handschellen an der Fubar hängt. Sie wissen
das. Sie können es nicht ändern. Das beste Incentive des Planeten
könnte das nicht leisten.
Morgen ist Mittwoch. Der Multifunktionsdrucker wird noch da sein, genau wie die Elektronikkästen im Serverraum. Aber die Blinklichter werden aus sein, ebenso das Brummen der Klimaanlage. Man wird das Fehlen des Brummtons bemerken. Feststellen, dass nun auch das Hintergrundgeräusch weg ist, das gestern noch die Existenz von Leben in der Büroetage geheuchelt hat. Während die Fubar GmbH atomisiert und irgendwo in der Cloud von Gernot und ein paar virtuellen Existenzen weiterbetrieben wird, wird man in der Etage nun das eigene Atmen noch ein wenig lauter hören. Das Klingeln des Amazon-Paketboten wird die Stille noch etwas mehr zerreißen als sonst. Vielleicht wird einer von ihnen an einen Friedhof denken. Und danach zu flüstern beginnen, weil stille Umgebungen den Aufenthalt darin nur noch in reduzierter Lautstärke zulassen. Das Rauskehren nach Gernots großem magischen Kunststück hat begonnen. Bald ist Stille.